16. Dezember 2020

Rot-Weiss-Fans zeigten Zivilcourage

Fahnenfroh präsentierte sich die Westkurve zu rot-weissen Bundesligazeiten. (Foto: Archiv)
Fahnenfroh präsentierte sich die Westkurve zu rot-weissen Bundesligazeiten. (Foto: Archiv)

Als Sepp Maier im Strafraum ein Küchenmesser fand.

Sie war berühmt und berüchtigt in der ganzen Fußballrepublik. Die Westkurve, Stehplatzbereich der eingefleischten RWE-Fans, um die es in diesem Teil der Serie zu den rot-weissen Bundesligazeiten geht. Hier ließ Sirenen-Willi seine Sirene heulen, verkaufte Moses gebrannte Mandeln und Lebkuchenherzen, kam der Kokosnussverkäufer Herbert Weiß vorbei und stieg Lothar Dohr zum ersten Mal auf einen Wellenbrecher, um das legendäre „Wer ist der Schreck vom Niederrhein?“ anzustimmen.

Traurige Berühmtheit erreichte die Westkurve dank bundesweiter Schlagzeilen der BILD-Zeitung vom 15.02.71. „Jetzt fliegen in der Bundesliga schon Messer“, titelte das Boulevard-Blatt. Auf der Titelseite ein Foto von Sepp Maier mit dem Corpus Delicti in der erhobenen Hand. Der Münchener Nationaltorwart wird eine Seite später mit den Worten zitiert: „Jetzt wird es aber lebensgefährlich.“

Was war passiert?
Rot-Weiss Essen empfing am vierten Rückrundenspieltag (13.02.1971) als Tabellenzwölfter den Tabellenzweiten Bayern München. Für die 25.000 RWE-Fans war klar: der dritte Bundesligaheimspielerfolg in Folge gegen den FC Bayern sollte eingefahren werden. Doch in der 8. Minute brachte Gerd Müller zunächst die Münchener mit 1:0 in Führung. Ein erster zaghafter rot-weisser Angriff in der 16. Minute landete neben dem Münchener Tor, das sich in der ersten Halbzeit vor der Westkurve befand. Sepp Maier holte den Ball vom Aschenplatzhalbrund zwischen Westkurve und Tor, fand dabei auch so manche über den Zaun geworfene Bierflasche und legte sich die Lederkugel zum Abstoß am Fünfmeterraum zurecht. Plötzlich eilte er zu Schiedsrichter Jan Redelfs mit einem Brotmesser in der Hand, das er im Torraum gefunden hatte.

Die Reaktionen
Laut BILD-Zeitung ein „Messer-Attentat" mit einem „blitzenden Mordinstrument". Schiedsrichter Jan Redelfs formulierte dagegen im offiziellen Spielberichtsbogen recht nüchtern: „In der 1. Halbzeit wurde eine Bierflasche in den Münchener Strafraum geworfen; kurz darauf ein Messer, welches aber niemanden traf. Das Messer habe ich sichergestellt.“ Für Bayern Münchens Präsident Wilhelm Neudecker war klar: „Rot-Weiss kann nichts für diese Entgleisung.“
Der Stadionsprecher forderte die Zuschauer auf, den Täter ausfindig zu machen und zu melden. Mitglieder des Rot-Weiss-Fan-Clubs gelang das noch in der ersten Halbzeit. Ein 17-jähriger betrunkener Gymnasiast aus Rüttenscheid fand sich nach dem Spiel auf der Geschäftsstelle ein und gab „seine unüberlegte Handlungsweise, die er im angetrunkenen Zustand unkontrolliert begangen habe, sofort zu“, wie es in der RWE-Stellungnahme an den DFB-Kontrollausschuss hieß.

Mit BILD am Telefon
Öffentlichkeitswirksam ließ die BILD den Jugendlichen sich im Beisein des Boulevardblattes telefonisch bei der Ehefrau von Sepp Maier entschuldigen. Zu einer Anklage gegen den Gymnasiasten kam es nicht. Der DFB sah von einer Geldstrafe gegen den Verein ab und ein heute übliches Stadionverbot wurde auch nicht ausgesprochen.

Die Geschichte verschwand schnell wieder aus den Gazetten, wurde dann aber in späteren Zeitungsberichten und Büchern zur Bundesliga als das Beispiel für die vermeintlich berühmteste, berüchtigtste und gefürchtetste Fankurve in Fußballdeutschland zur ungewollten Legende der Westkurve. Der WDR erstellte 1976 sogar den Dokumentarfilm „Immer Ärger mit den Jungs aus der Westkurve", in dem eine Gruppe Jugendlicher auch noch einmal über den Messerwurf diskutiert. Im Film bescheinigt ein Einsatzleiter der Polizei den RWE-Fans immerhin: „Die Westkurve ist besser als ihr Ruf.“

Das Spiel drehte Rot-Weiss Essen übrigens innerhalb von acht Minuten durch Treffer von Willi Lippens (59. Min) und Walter Hohnhausen (65. und 66. Min), gewann noch mit 3:1 und kletterte mit 20:22 Punkten auf den 11. Tabellenplatz. „Wir können in Essen einfach nicht gewinnen“, stöhnte Bayern-Trainer Udo Lattek nach der Niederlage. Willi Lippens stand zu diesem Zeitpunkt mit 16 Toren auf dem 2. Platz der Torschützenliste.

Es war allerdings der letzte doppelte Punktgewinn in der Saison 1970/71, die mit dem Bundesligaskandal und dem Abstieg von RWE bei 23:45 Punkten auf dem letzten Platz enden sollte.

Ein Beitrag unseres ehrenamtlichen Vereinshistorikers Georg Schrepper.